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  Anthropologie - Clifford Geertz, Professor für Sozialwissenschaften am Institute for Advanced Study in Princeton, ist einer der renommiertesten Ethnologen der Gegenwart, dessen Arbeiten auch jenseits der Fachgrenzen Beachtung finden. Anläßlich eines Gastaufenthalts am Institut für die Wissenschaft vom Menschen sprach Geertz mit dem „Falter“ unter anderem auch über sein jüngst erschienenes Buch „After the Fact“, einer Art Zwischenbilanz seines intellektuellen Lebens. Klaus Taschwer

 

Es war vor genau zehn Jahren, da erschien im Times Literary Supplement einer von Clifford Geertz’ kleinen Aufsätze, der wieder einmal weite Kreise zog. „Waddling in“ war sein Titel – auf deutsch etwa „Vom Hereinstolpern“ –, und gemeint war damit nichts anderes als die krisenhafte Situation der modernen Anthropologie. Brillant formulierend wie immer analysierte er darin die permanenten Identitätsprobleme seines Faches, dem sich ja sowohl Leute zurechnen, „die Paviane beim Kopulieren beobachten, Mythen in algebraische Formeln umschreiben, diluviale Skelette ausgraben“ wie auch solche, „die Mayahieroglyphen entziffern oder Verwandtschaftssysteme zu einer Typologie zusammenfassen, wobei das unsrige unter die Rubrik „Eskimo“ fällt.“

Ein zusätzliches Problem der Sozial- bzw. Kulturanthropologie (letzterer würde sich im übrigen auch Geertz zurechnen) liegt im verschwindenden Forschungs­gegenstand – ein Problem, das in den vergangenen zehn Jahren noch dringlicher geworden ist. Allenfalls noch im Hochland von Neuguinea, in Amazonien oder in Zentralafrika finden sich Gesellschaften, die die Attribute „einfach“ oder „elementar“ verdienen. Angesichts der globalen Homogenisierungstendenzen stürzen sich nicht wenige Anthropologen „in das Getümmel welthistorischer Gebilde wie China Indien, Japan oder auch Europa“.

Geertz eigene Karriere bewegte sich freilich sehr lange in den konventionellen Bahnen der Ethnologie: 1952 kommt er 26jährig das erste Mal nach Indonesien und schreibt über seine dortigen Feldforschungen seine Dissertation. Java und Bali werden in den folgenden Jahren seine bevorzugten Forschungsgebiete, und viele seiner heute klassischen Arbeiten gehen auf die Forschungsaufenthalte in dieser Region zurück - wie etwa seine faszinierende Aufsätze über den balinesischen Hahnenkampf oder über die sich wandelnde Rolle religiöser Rituale auf Java.

Für diese Studien formulierte Geertz auch einen spezifischen Untersuchungsrahmen, den er „dichte Beschreibung“ nennt und der in der Zwischenzeit zu einem oft zitierten Schlüsselkonzept der Ethnologie wurde. Geertz geht davon aus, „daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungs­gewebe verstrickt ist“ und daß dieses Gewebe Kultur sei. Anstelle von „dünnen Beschreibungen“, die es beim Sammeln von Daten und bei oberflächlichen Analysen bewenden lassen, fordert die „dichte Beschreibung“ vom Ethnologen, sich – zumindest ausschnittsweise – der „Vielfalt komplexer, oft übereinander­gelagerter oder ineinander verwobener Vorstellungsstrukturen“ zu stellen, die fremdartig und rätselhaft sind, „und die er zunächst irgendwie fassen muß“. Nein, einfache Rezepte, wie das zu machen sei, gibt es natürlich nicht, so Geertz im Interview: Auch er habe vor allem durch andere Forscher und als deren Gehilfe gelernt.

Zu den rätselhaftesten gesellschaftlichen Ausdrucksformen gehört ohne Zweifel die Religion. Ihren Beschreibungen – bzw. denen des Islam – hat Geertz eine beträchtliche Anzahl seiner Untersuchungen gewidmet. Nach seinen Feldforschungen in Indonesien, die er in den sechziger Jahren abbrechen mußte, da es dort zu gefährlich wurde, verschlug es ihn nach Marokko. Das war der Beginn von Geertz’ ver­gleichender Religionsforschung, die den erstaunlichen Differenzen zwischen ein und derselben Religion in zwei „sehr verschiedenen und doch nicht so ver­schiedenen Gesellschaften“ aufzeigt.

Dabei hat Geertz insbesondere den Wandel religiöser Praktiken im Auge, wobei er sich im klaren darüber ist, daß diese Auffassung, „daß Religionen sich verändern, an sich bereits fast eine Häresie ist“. Von allzu einfachen Beschreibungen religiöser Entwicklungsprozesse hält er allerdings wenig – etwa von der These, daß sich die politischen Radikalisierungen in der islamischen Welt den ökonomischen und technischen Modernisierungen verdanken – da sie im Grunde trivial bleiben. Seiner Meinung nach gehe es darum, im Detail und „dicht“ zu beschreiben, wie dieser Konflikt zwischen sozialem Wandel und religiöser Entwicklung im Alltagsleben tatsächlich ausgetragen würde. Denn nur so könne man verstehen, daß die „Re-Politisierungen des Islam“ in Marokko und Indonesien nicht dasselbe meinen, da sie auf völlig andere gesellschaftliche Rahmen­bedingungen zurückgingen.

Aktuelle dichte Beschreibungen der Konflikt zwischen einer „hyperkommerzialisierten Wirtschaft“ und traditionellen religiösen Vorschriften finden sich auch in Geertz’ jüngstem Buch „After the Fact“. So wohnte er unter anderem der Eröffnung einer neuen englischsprachigen Islam-Schule in Indonesien bei, in der es bei den festlichen Darbietungen der Schüler zu völlig verqueren Mischun­gen von angloamerikaischer Pop-Kultur mit traditionellen religiösen Elementen kam. Und für eine marokkanische Stadt analysiert er religiöse Veränderungen im Lichte von architektonischen Wandlungsprozessen.

Städte, Länder, Kulturen, Hegemonien, Diziplinen, Modernitäten – diese sechs Kapitelüberschriften deuten darauf hin, daß im neuen Buch Grundsätzliches abgehandelt wird. Allerdings geschieht dies nicht in Form einer strengen Monoraphie, sondern als autobiografisch eingefärbte Bilanz einer 40jährigen Tätigkeit als Anthropologe. Dem entspricht auch der programma­tische Untertitel: „Two countries, four decades, one anthropologist“. Dabei wehrt sich Geertz gegen allzu vorschnelle Bilanzierungen:„Nein, die Entwicklungen in Marokko und Indonesien kann man nicht in wenigen Sätzen zusammenfassen“, zeigt sich Geertz im Interview hartnäckig, „ebensowenig wie ein Leben als Anthro­pologe.“ Und das war im übrigen auch die untergründige Botschaft seiner Vorträge in Wien: Lieber sorgsam zwischen verschiedenen Gesellschaften zu unterscheiden statt ungerechtfertigt zu generalisieren und das jeweils „Andere“ über einen begrifflichen Kamm zu scheren.

Neben dem Verschwinden „unberührter Gesellschaften“ liegt die anhaltende Identitätskrise der Anthropologie auch in der zunehmenden Verunsicherung, wie dieses „Andere“ im anthropologischen Diskurs dargestellt werden soll, bzw. wie „wir“ überhaupt dazu kommen, über und für „sie“ zu sprechen. So war und ist Geertz auch einer derjenigen, die sich mit den den Beiträgen der frühen Ethnologie zur kolonialistischen Herrschaftssicherung kritisch auseinander­setzten. Seine Lektüre der Klassiker führte ihn aber auch zu anderen Fragen, die seinen literarischen Neigungen eher entsprachen: Warum glauben wir überhaupt, was uns Ethnologen über fremde (oder nahe) Kulturen erzählen, obwohl kaum jemand anderer dort gewesen ist? Was unterscheidet anthropologische Texte überhaupt von anderen Literatursorten?

Antworten darauf gibt Geertz in seinem vielleicht bestem Buch, „The Anthropologist as Author“ (dt. „Die künstlichen Wilden, 1990), in dem er – auch für Nicht-Anthropologen – faszinierende Ausdeutungen einiger ethnographischer Klassiker vorlegt. An den Beispielen von Claude Lévi-Strauss oder Bronislaw Malinowski zeigt er auf, wie sehr ihre Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft von bestimmten literarischen Strategien bestimmt ist. Zwar geht es einerseits darum, auch den „befremdendsten“ Erfahrungen möglichst unvoreingenommen gegenüberzustehen; andererseits wäre es unmöglich und unsinnig, die subjektiven Eindrücke ganz zu eliminieren – auch um zu belegen, „dort“ gewesen zu sein.

Geertz’ Schlußfolgerung aus diesem Dilemma der ethnologischen Beobachtung hat – mit entsprechenden Abänderungen – auch für alle anderen Humanwissenschaften Geltung: Eine objektive Anthropologie gibt es nicht; es gibt nur mehr oder weniger dichte Beschreibungen des „Anderen“.

 

Bücher von Clifford Geertz:

Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Übersetzt von Brigitte Luchesi und Rolf Bindemann. Frankfurt/M. 1983 (stw 696). 320 S., öS 187,–

Religiöse Entwicklungen im Islam. Beobachtet in Marokko und Indonesien. Übersetzt von Brigitte Luchesi. Frankfurt/M. 1991 (stw 972). 206 S., öS 141,–

Die künstlichen Wilden. Der Anthropologe als Schriftsteller. Übersetzt von Martin Pfeiffer. Frankfurt/M. 1993 (Fischer). 157 S., öS 132,–

After the Fact: Two countries, four decades, one anthropologist. Cambridge 1995 (Harvard University Press). 193 S., öS ca. 260,–

ZITAT:

Klaus Taschwer: Dichtes Beschreiben. [Porträt des Kulturanthropologen Clifford Geertz]. In: Falter (Wien) 30/1995, S. 47.

Inzwischen zum Thema erschienen:

Gerhard Fröhlich, Ingo Mörth (Hg., 1998), Symbolische Anthropologie der Moderne? Kulturanalysen nach Clifford Geertz. Ffm./N.Y.: Campus Verlag, ISBN 3-593-35890-5

 

 


Dichtes Beschreiben: Porträt des Kulturanthropologen Clifford Geertz (feature/interview by Klaus Taschwer), in: Falter (Wien/AUT: Falter Verlag), no. 30 (1995), p. 47


 

online source: http://www.iwp.uni-linz.ac.at/lxe/wt2k/02ws/geertz.htm

 


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