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Es
war vor genau zehn Jahren, da erschien im Times Literary Supplement
einer von Clifford Geertz’ kleinen Aufsätze, der wieder einmal
weite Kreise zog. „Waddling in“ war sein Titel – auf deutsch
etwa „Vom Hereinstolpern“ –, und gemeint war damit nichts
anderes als die krisenhafte Situation der modernen Anthropologie.
Brillant formulierend wie immer analysierte er darin die permanenten
Identitätsprobleme seines Faches, dem sich ja sowohl Leute zurechnen,
„die Paviane beim Kopulieren beobachten, Mythen in algebraische
Formeln umschreiben, diluviale Skelette ausgraben“ wie auch solche,
„die Mayahieroglyphen entziffern oder Verwandtschaftssysteme zu
einer Typologie zusammenfassen, wobei das unsrige unter die Rubrik
„Eskimo“ fällt.“ Ein
zusätzliches Problem der Sozial- bzw. Kulturanthropologie (letzterer
würde sich im übrigen auch Geertz zurechnen) liegt im
verschwindenden Forschungsgegenstand – ein Problem, das in den
vergangenen zehn Jahren noch dringlicher geworden ist. Allenfalls noch
im Hochland von Neuguinea, in Amazonien oder in Zentralafrika finden
sich Gesellschaften, die die Attribute „einfach“ oder
„elementar“ verdienen. Angesichts der globalen
Homogenisierungstendenzen stürzen sich nicht wenige Anthropologen
„in das Getümmel welthistorischer Gebilde wie China Indien, Japan
oder auch Europa“. Geertz
eigene Karriere bewegte sich freilich sehr lange in den
konventionellen Bahnen der Ethnologie: 1952 kommt er 26jährig das
erste Mal nach Indonesien und schreibt über seine dortigen
Feldforschungen seine Dissertation. Java und Bali werden in den
folgenden Jahren seine bevorzugten Forschungsgebiete, und viele seiner
heute klassischen Arbeiten gehen auf die Forschungsaufenthalte in
dieser Region zurück - wie etwa seine faszinierende Aufsätze über
den balinesischen Hahnenkampf oder über die sich wandelnde Rolle
religiöser Rituale auf Java. Für
diese Studien formulierte Geertz auch einen spezifischen
Untersuchungsrahmen, den er „dichte Beschreibung“ nennt und der in
der Zwischenzeit zu einem oft zitierten Schlüsselkonzept der
Ethnologie wurde. Geertz geht davon aus, „daß der Mensch ein Wesen
ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist“ und
daß dieses Gewebe Kultur sei. Anstelle von „dünnen
Beschreibungen“, die es beim Sammeln von Daten und bei oberflächlichen
Analysen bewenden lassen, fordert die „dichte Beschreibung“ vom
Ethnologen, sich – zumindest ausschnittsweise – der „Vielfalt
komplexer, oft übereinandergelagerter oder ineinander verwobener
Vorstellungsstrukturen“ zu stellen, die fremdartig und rätselhaft
sind, „und die er zunächst irgendwie fassen muß“. Nein, einfache
Rezepte, wie das zu machen sei, gibt es natürlich nicht, so Geertz im
Interview: Auch er habe vor allem durch andere Forscher und als deren
Gehilfe gelernt. Zu
den rätselhaftesten gesellschaftlichen Ausdrucksformen gehört ohne
Zweifel die Religion. Ihren Beschreibungen – bzw. denen des Islam
– hat Geertz eine beträchtliche Anzahl seiner Untersuchungen
gewidmet. Nach seinen Feldforschungen in Indonesien, die er in den
sechziger Jahren abbrechen mußte, da es dort zu gefährlich wurde,
verschlug es ihn nach Marokko. Das war der Beginn von Geertz’ vergleichender
Religionsforschung, die den erstaunlichen Differenzen zwischen ein und
derselben Religion in zwei „sehr verschiedenen und doch nicht so verschiedenen
Gesellschaften“ aufzeigt. Dabei
hat Geertz insbesondere den Wandel religiöser Praktiken im Auge,
wobei er sich im klaren darüber ist, daß diese Auffassung, „daß
Religionen sich verändern, an sich bereits fast eine Häresie ist“.
Von allzu einfachen Beschreibungen religiöser Entwicklungsprozesse hält
er allerdings wenig – etwa von der These, daß sich die politischen
Radikalisierungen in der islamischen Welt den ökonomischen und
technischen Modernisierungen verdanken – da sie im Grunde trivial
bleiben. Seiner Meinung nach gehe es darum, im Detail und „dicht“
zu beschreiben, wie dieser Konflikt zwischen sozialem Wandel und
religiöser Entwicklung im Alltagsleben tatsächlich ausgetragen würde.
Denn nur so könne man verstehen, daß die „Re-Politisierungen des
Islam“ in Marokko und Indonesien nicht dasselbe meinen, da sie auf völlig
andere gesellschaftliche Rahmenbedingungen zurückgingen. Aktuelle
dichte Beschreibungen der Konflikt zwischen einer
„hyperkommerzialisierten Wirtschaft“ und traditionellen religiösen
Vorschriften finden sich auch in Geertz’ jüngstem Buch „After the
Fact“. So wohnte er unter anderem der Eröffnung einer neuen
englischsprachigen Islam-Schule in Indonesien bei, in der es bei den
festlichen Darbietungen der Schüler zu völlig verqueren Mischungen
von angloamerikaischer Pop-Kultur mit traditionellen religiösen
Elementen kam. Und für eine marokkanische Stadt analysiert er religiöse
Veränderungen im Lichte von architektonischen Wandlungsprozessen. Städte,
Länder, Kulturen, Hegemonien, Diziplinen, Modernitäten – diese
sechs Kapitelüberschriften deuten darauf hin, daß im neuen Buch
Grundsätzliches abgehandelt wird. Allerdings geschieht dies nicht in
Form einer strengen Monoraphie, sondern als autobiografisch eingefärbte
Bilanz einer 40jährigen Tätigkeit als Anthropologe. Dem entspricht
auch der programmatische Untertitel: „Two countries, four decades,
one anthropologist“. Dabei wehrt sich Geertz gegen allzu vorschnelle
Bilanzierungen:„Nein, die Entwicklungen in Marokko und Indonesien
kann man nicht in wenigen Sätzen zusammenfassen“, zeigt sich Geertz
im Interview hartnäckig, „ebensowenig wie ein Leben als Anthropologe.“
Und das war im übrigen auch die untergründige Botschaft seiner Vorträge
in Wien: Lieber sorgsam zwischen verschiedenen Gesellschaften zu
unterscheiden statt ungerechtfertigt zu generalisieren und das jeweils
„Andere“ über einen begrifflichen Kamm zu scheren. Neben
dem Verschwinden „unberührter Gesellschaften“ liegt die
anhaltende Identitätskrise der Anthropologie auch in der zunehmenden
Verunsicherung, wie dieses „Andere“ im anthropologischen Diskurs
dargestellt werden soll, bzw. wie „wir“ überhaupt dazu kommen, über
und für „sie“ zu sprechen. So war und ist Geertz auch einer
derjenigen, die sich mit den den Beiträgen der frühen Ethnologie zur
kolonialistischen Herrschaftssicherung kritisch auseinandersetzten.
Seine Lektüre der Klassiker führte ihn aber auch zu anderen Fragen,
die seinen literarischen Neigungen eher entsprachen: Warum glauben wir
überhaupt, was uns Ethnologen über fremde (oder nahe) Kulturen erzählen,
obwohl kaum jemand anderer dort gewesen ist? Was unterscheidet
anthropologische Texte überhaupt von anderen Literatursorten? Antworten
darauf gibt Geertz in seinem vielleicht bestem Buch, „The
Anthropologist as Author“ (dt. „Die künstlichen Wilden, 1990), in
dem er – auch für Nicht-Anthropologen – faszinierende
Ausdeutungen einiger ethnographischer Klassiker vorlegt. An den
Beispielen von Claude Lévi-Strauss oder Bronislaw Malinowski zeigt er
auf, wie sehr ihre Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft von
bestimmten literarischen Strategien bestimmt ist. Zwar geht es
einerseits darum, auch den „befremdendsten“ Erfahrungen möglichst
unvoreingenommen gegenüberzustehen; andererseits wäre es unmöglich
und unsinnig, die subjektiven Eindrücke ganz zu eliminieren – auch
um zu belegen, „dort“ gewesen zu sein. Geertz’
Schlußfolgerung aus diesem Dilemma der ethnologischen Beobachtung hat
– mit entsprechenden Abänderungen – auch für alle anderen
Humanwissenschaften Geltung: Eine objektive Anthropologie gibt es
nicht; es gibt nur mehr oder weniger dichte Beschreibungen des
„Anderen“. Bücher
von Clifford Geertz: Dichte
Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Übersetzt
von Brigitte Luchesi und Rolf Bindemann. Frankfurt/M. 1983 (stw 696).
320 S., öS 187,– Religiöse
Entwicklungen im Islam. Beobachtet in Marokko und Indonesien. Übersetzt
von Brigitte Luchesi. Frankfurt/M. 1991 (stw 972). 206 S., öS 141,– Die künstlichen Wilden. Der Anthropologe als Schriftsteller. Übersetzt
von Martin Pfeiffer. Frankfurt/M. 1993 (Fischer). 157 S., öS 132,– After the Fact: Two countries, four decades, one anthropologist.
Cambridge 1995 (Harvard University Press). 193 S., öS ca. 260,– ZITAT: Klaus
Taschwer: Dichtes Beschreiben. [Porträt des Kulturanthropologen
Clifford Geertz]. In: Falter (Wien) 30/1995, S. 47. Inzwischen
zum Thema erschienen: Gerhard
Fröhlich, Ingo Mörth (Hg., 1998), Symbolische Anthropologie der
Moderne? Kulturanalysen nach Clifford Geertz. Ffm./N.Y.: Campus
Verlag, ISBN 3-593-35890-5 |
Dichtes Beschreiben: Porträt des Kulturanthropologen Clifford Geertz (feature/interview by Klaus Taschwer), in: Falter (Wien/AUT: Falter Verlag), no. 30 (1995), p. 47
online source: http://www.iwp.uni-linz.ac.at/lxe/wt2k/02ws/geertz.htm
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