Der Gegen-Fortschritt des Clifford Geertz
Text mit Interview-Auszügen von
Clifford Geertz
Autor: John Horgan
in: John Horgan: An den Grenzen des Wissens. Siegeszug und Dilemma der Naturwissenschaften. Neuwied/BRD: Luchterhand, pp. 248-265.
Ironische
Wissenschaftler lassen sich in zwei Typen einteilen: naive Ironiker, die glauben
oder zumindest hoffen, daß sie objektive Wahrheiten über die Natur in Erfahrung
bringen (der Superstringtheoretiker Edward Witten ist ein prototypisches
Beispiel dafür), und reflektierte Ironiker, die sich bewußt sind, daß ihre
Tätigkeit im Grunde genommen mehr der eines Künstlers bzw.
Literaturwissenschaftlers gleicht als der eines herkömmlichen Wissenschaftlers.
Es gibt kein besseres Beispiel für einen reflektierten ironischen
Wissenschaftler als den Anthropologen Clifford Geertz. Geertz ist zugleich
Wissenschaftler und Wissenschaftstheoretiker; sein Werk ist ein einziger langer
Kommentar über sich selbst. So wie Stephen Jay Gould der Evolutionsbiologie den
Spiegel vorhält, so hält Geertz den Sozialwissenschaften den Spiegel vor. Geertz
hat mit dazu beigetragen, daß sich die Prophezeiung bewahrheitete, die Günther
Stent in The Coming of the Golden Age abgegeben hat, wonach die
Sozialwissenschaften »für lange Zeit die mehrdeutigen, impressionistischen
Disziplinen bleiben werden, die sie gegenwärtig sind«.18
Ich begegnete Geertz' Schriften erstmals im College, als ich einen Kurs über
Literaturtheorie belegte und unser Dozent Geertz' 1973 erschienenen Essay
»Dichte Beschreibung: Bemerkungen zu einer deutenden Theorie der Kultur« zur
Pflichtlektüre erklärte.19 Die Kernthese des Essays lautete, daß ein
Anthropologe eine Kultur nicht dadurch beschreiben könne, daß er bloß »die
Fakten aufzeichnet«. Er bzw. sie müsse die Phänomene interpretieren, ihre
Bedeutung zu ergründen suchen. Geertz verwies auf das Beispiel des Zwinkerns mit
den Augen (das er von dem britischen Philosophen Gilbert Ryle übernahm). Das
Zwinkern kann ein unwillkürliches Zucken sein, das auf eine neurologische
Erkrankung, auf Ermüdung oder auf Nervosität zurückzuführen ist. Vielleicht aber
ist es auch ein Wink, ein intentionales Zeichen, das viele mögliche Bedeutungen
hat. Eine Kultur besteht aus einer praktisch unendlichen Anzahl solcher
Botschaften bzw. Zeichen, und die Aufgabe des Anthropologen besteht darin, diese
zu deuten. Im Idealfall ist die anthropologische Deutung einer Kultur so komplex
und vielfältig wie die Kultur selbst. Doch so wie die Literaturwissenschaftler
nicht darauf hoffen dürfen, ein für allemal den Sinngehalt von Hamlet dingfest
zu machen, so müssen die Anthropologen alle Hoffnung fahrenlassen, absolute
Wahrheiten zu entdecken. »Die Ethnologie, zumindest die deutende Ethnologie, ist
eine Wissenschaft, deren Fortschritt sich weniger in einem größeren Konsens als
in immer ausgefeilteren Debatten zeigt«, schrieb Geertz. »Was sich entwickelt,
ist die Präzision, mit der wir einander ärgern.« 20 Nach Ansicht von Geertz
bestand das Ziel seiner Wissenschaft nicht darin, ihren Diskurs zum Abschluß zu
bringen, sondern darin, ihn auf immer interessantere Weise fortzusetzen. In
späteren Schriften verglich Geertz die Anthropologie nicht nur mit der
Literaturwissenschaft, sondern auch mit der Literatur selbst. Die Ethnographie
umfasse, wie die Literatur, das »Erzählen von Geschichten, das Malen von
Bildern, das Ausdenken von Symbolismen und das Entfalten von Tropen«,
schrieb Geertz. Er definierte die Anthropologie als »Faction« [aus »fact«
und »fiction«] und als »imaginatives Schreiben über reale Menschen an realen
Orten zu realen Zeitpunkten«.21 (Natürlich stellt die Ersetzung der
Literaturwissenschaft durch die Kunst für jemanden wie Geertz keinen radikalen
Schritt dar, da die meisten Postmodernen der Ansicht sind: ein Text ist ein Text
ist ein Text.) Geertz stellte seine eigene Begabung als Faction-Schriftsteller
in dem Aufsatz »Deep Play: Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf« unter
Beweis. Schon der erste Satz dieses Essays aus dem Jahre 1972 verdeutlichte
seinen eigentümlichen, alles andere als nüchtern-sachlichen Erzählstil: »Anfang
April 1958 kamen meine Frau und ich, malariakrank und ohne großes
Selbstvertrauen, in einem balinesischen Dorf an, wo wir eine ethnologische
Untersuchung durchführen wollten.« 22 (Man hat Geertz' Erzählstil mit dem von
Marcel Proust und Henry James verglichen. Geertz sagte mir, der erste Vergleich
habe ihm geschmeichelt, doch der zweite sei der Wahrheit vermutlich näher.) Der
einleitende Abschnitt des Essays beschreibt, wie das junge Paar das Vertrauen
der gewöhnlich reservierten Balinesen gewann. Geertz, seine Frau und eine Gruppe
von Dorfbewohnern beobachteten gerade einen Hahnenkampf, als die Polizei eine
Razzia durchführte. Das amerikanische Ehepaar floh zusammen mit seinen
balinesischen Nachbarn. Beeindruckt davon, daß sich die Wissenschaftler nicht um
eine Vorzugsbehandlung durch die Polizei bemüht hatten, faßten die Dorfbewohner
Zutrauen zu ihnen. Nachdem Geertz auf diese Weise in die Dorfgemeinschaft
aufgenommen worden war, begann er, die Begeisterung der Balinesen für den
Hahnenkampf zu schildern und zu analysieren. Er kam schließlich zu dem Ergebnis,
daß der blutige Sport - bei dem Hähne, die mit rasiermesserscharfen Sporen
bewaffnet sind, auf Leben und Tod kämpfen - die Angst der Balinesen vor den
finsteren Mächten, die ihrer nach außen hin
friedvollen Gesellschaft zugrunde liege, spiegele und so banne. Wie im König
Lear oder in Schuld und Sühne greife der Hahnenkampf »deren Themen - Tod,
Männlichkeit, Wut, Stolz, Verlust, Gnade und Glück - auf und ordne sie zu einer
umfassenden Struktur«.23 Geertz ist ein Bär von einem Mann, mit struppigem, weiß
werdendem Haar und Bart. Als ich ihn an einem verregneten Frühlingstag im
Institute for Advanced Study in Princeton zum ersten Mal interviewte, zappelte
er die ganze Zeit über nervös herum: Er zog sich an einem Ohr, betätschelte eine
Wange, lümmelte sich in seinen Sessel und richtete sich plötzlich auf.24 Ab und
zu, während ich ihm eine Frage stellte, zog er das Oberteil seines Sweaters bis
über die Nasenspitze, ähnlich einem Banditen, der seine Identität zu verbergen
sucht. Seinen mündlichen Darlegungen ließ sich kaum ein klarer Sinn entnehmen.
Sie waren das genaue Pendant seiner Schriften: ein ständiges abruptes Abbrechen
und Neuansetzen, schnell fertige Behauptungen, durchsetzt von zahllosen
Einschränkungen und durchdrungen von einem überschäumenden Selbstbewußtsein.
Geertz war entschlossen, dem seiner Ansicht nach weitverbreiteten Mißverständnis
entgegenzutreten, er sei ein genereller Skeptiker, der nicht glaube, daß die
Wissenschaft zu dauerhaften Wahrheiten gelangen könne. Einige Wissenschaften, so
Geertz, insbesondere die Physik, seien offensichtlich in der Lage, wahre
Erkenntnisse zu gewinnen. Er betonte auch, daß er, im Gegensatz zu
anderslautenden Gerüchten, die Anthropologie nicht bloß für eine Kunst halte,
die bar jeglichen empirischen Gehalts und daher auch keine ernstzunehmende
wissenschaftliche Disziplin sei. Die Anthropologie sei »empirischen Beweisen
zugänglich, und sie stellt Theorien auf«, sagte Geertz, und die anthropologische
Feldforschung könne mitunter eine nichtabsolute Falsifikation von Hypothesen
erreichen. Daher sei sie eine Wissenschaft, die zudem in gewissem Umfang
Fortschritte machen könne.
Andererseits »gibt es in der Anthropologie nichts, dessen Status mit den
unumstößlichen Erkenntnissen der exakten Wissenschaften vergleichbar wäre, und
das wird meiner Meinung nach auch immer so bleiben«, sagte Geertz. »Einige der
Annahmen, die [Anthropologen] darüber gemacht haben, wie leicht es ist, dies zu
verstehen und was man tun muß, um jenes zu erreichen, sind nicht mehr ...
niemand glaubt mehr an sie.« Er lachte. »Das bedeutet nicht, daß es unmöglich
wäre, irgend jemanden zu verstehen oder anthropologische Studien durchzuführen.
Das glaube ich auf gar keinen Fall. Aber es ist nicht leicht.« In der modernen
Anthropologie seien eher Meinungsverschiedenheiten als Übereinstimmungen die
Regel. »Die Dinge werden immer komplizierter, aber sie streben keinem
gemeinsamen Punkt zu. Sie breiten sich aus und zerstreuen sich auf eine sehr
komplexe Weise. Ich sehe daher nicht, daß alles auf eine große Integration
zuliefe, vielmehr dürfte es immer pluralistischer und differenzierter zugehen.«
Je länger Geertz sprach, um so mehr verfestigte sich bei mir der Eindruck, daß
der Fortschritt, der ihm vorschwebte, eine Art Gegen-Fortschritt ist, in dessen
Verlauf die Anthropologen nacheinander sämtliche Annahmen aufheben würden, die
einen Konsens ermöglichten; feste Überzeugungen würden schwinden, und die
Zweifel würden sich mehren. Er wies darauf hin, daß nur noch wenige
Anthropologen glaubten, sie könnten durch Erforschung sogenannter »primitiver«
Stämme, die vermeintlich in einem ursprünglichen, nicht von der modernen
Zivilisation verfälschten Zustand lebten, allgemeingültige Wahrheiten über die
gesamte Menschheit in Erfahrung bringen; auch könnten die Anthropologen nicht
von sich behaupten, sie seien streng objektive Datensammler, die keinerlei
Vorurteile hegten. Geertz fand die Vorhersage von Edward Wilson lächerlich, die
Sozialwissenschaften könnten eines Tages die gleiche Exaktheit wie die Physik
erreichen, indem sie in der Evolutionstheorie, der Genetik und den Neurowissenschaften verankert würden. Alle
selbsternannten Revolutionäre seien mit einer grandiosen Idee hervorgetreten,
die die Sozialwissenschaften vereinheitlichen sollte, so Geertz. Vor der
Soziobiologie seien es die allgemeine Systemtheorie, die Kybernetik und der
Marxismus gewesen. »Die Vorstellung, irgend jemand würde kommen und alles über
Nacht revolutionieren, ist eine Art Akademikerkrankheit«, sagte Geertz. Am
Institute for Advanced Study traten gelegentlich Physiker bzw. Mathematiker, die
hochkomplizierte mathematische Modelle der Rassenbeziehungen und anderer
soziologischer Probleme entwickelt hatten, an Geertz heran. »Aber sie haben
keine Ahnung von dem, was in den Innenstädten vor sich geht!« entfuhr es Geertz.
»Sie haben nichts als ein mathematisches Modell!« Physiker, murrte er, würden
niemals eine physikalische Theorie gelten lassen, die nicht auf einer
empirischen Grundlage stehe. »Doch aus irgendeinem Grund scheinen die
Sozialwissenschaften nicht zu zählen. Und wenn man eine allgemeine Theorie von
Krieg und Frieden haben will, dann braucht man nichts weiter zu tun, als sich
hinzusetzen und eine Gleichung auszuhecken, ohne daß man einen blassen Schimmer
von der Geschichte oder den Menschen haben müßte.« Geertz war sich der Tatsache
schmerzlich bewußt, daß der introspektive, literarische Stil von
wissenschaftlicher Prosa, den er eingeführt hatte, ebenfalls seine Gefahren
hatte. Er konnte beim Autor zu einem Übermaß an Subjektivität bzw. zu
»epistemologischer Hypochondrie« führen. Diese Richtung, die Geertz »Ich-Zeugenschaft«
(I-witnessing) nannte, hatte einige interessante, aber auch einige bodenlos
schlechte Arbeiten hervorgebracht. Einige Anthropologen, so Geertz, hätten all
ihre potentiellen - ideologischen und anderweitigen - Vorurteile mit einer
solchen Inbrunst ausgebreitet, daß ihre Schriften Bekenntnischarakter hätten und
viel mehr über den Autor als über das mutmaßliche Thema aussagten.
Geertz hatte unlängst wieder zwei Regionen (eine in Marokko und die andere in
Indonesien) besucht, in denen er zu Beginn seines akademischen Berufswegs
Feldforschung betrieben hatte. Beide Orte hätten sich tiefgreifend gewandelt;
doch auch er habe sich verändert. Aufgrund dessen sei ihm noch deutlicher bewußt
geworden, wie schwer es für Anthropologen sei, Wahrheiten zu erkennen, die über
ihre Zeit, ihren Ort und ihren Kontext hinausgingen. »Ich war schon immer
der Ansicht, unsere Bemühungen könnten in einem völligen Mißerfolg enden«, sagte
er. »Dennoch bin ich nach wie vor einigermaßen optimistisch, da ich es für
machbar halte, solange man keine allzu hohen Ansprüche stellt. Bin ich
pessimistisch? Nein, aber ich bin ernüchtert.« Geertz betonte, die Anthropologie
sei nicht das einzige Gebiet, das sich mit Fragen nach seinen Grenzen
herumschlage. »Die gleiche Stimmungslage ist auch in anderen Disziplinen
anzutreffen« - sogar in der Elementarteilchenphysik, die die Grenzen der
empirischen Überprüfbarkeit zu erreichen scheine, so Geertz. »Das einst blinde
Vertrauen in die Wissenschaft ist meines Erachtens am Schwinden. Das bedeutet
nicht, daß alle resignieren und ihre Hände verzweifelt ringen und so fort. Aber
es ist außerordentlich schwierig geworden.« Zu der Zeit unseres Treffens in
Princeton schrieb Geertz an einem Buch über seine Streifzüge in die
Vergangenheit. Der Titel des Buches, das 1995 erschien, brachte Geertz'
skeptische Einstellung genau auf den Punkt: After the Fact (»Nach den Fakten«
bzw. »Hinter den Fakten her«). Im letzten Absatz des Buches dröselte Geertz die
Mehrdeutigkeit des Titels auf: Wissenschaftler wie erjagten selbstverständlich
den Fakten nach, doch sie könnten die Fakten allenfalls nachträglich erfassen;
zu dem Zeitpunkt, zu dem sie einen Sachverhalt zu verstehen begännen, habe sich
die Welt bereits weiterentwickelt und sei so unergründlich wie je. Der Titel
verweise ferner auf die »post-positivistische Kritik des empirischen Realismus,
die Abkehr von einfachen Entsprechungstheorien der Wahrheit und der Erkenntnis, die schon allein den Begriff
›Faktum‹ zu einer heiklen Angelegenheit macht. Es gibt nicht viel Zuversicht
oder ein Gefühl der Abgeschlossenheit, noch nicht einmal viel von einem Gefühl,
daß man weiß, worauf man wirklich aus ist, bei einer so unbestimmten Sache,
unter so verschiedenartigen Menschen, über eine solche Vielzahl von
Zeitabschnitten hinweg. Doch ist dies ein ausgezeichnetes Verfahren,
interessant, erschreckend, nützlich und amüsant, um ein Leben darauf zu
verwenden.« 25 Die ironischen Sozialwissenschaften mögen uns nicht
weiterbringen, doch zumindest bieten sie uns eine Beschäftigung für immer, wenn
wir wollen.
Anmerkungen
19 Der Essay findet sich in der Sammlung von Aufsätzen Geertz', die unter dem Titel Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/M. 1983, erschienen ist.
20 a.a.O., S. 42.
21 Clifford Geertz, Die künstlichen Wilden, München 1990, S. 137.
22 »Deep Play« ist in dem Sammelband Dichte Beschreibung enthalten. Dieses Zitat findet sich auf Seite 202.
23 a.a.O., S. 246.
24 Ich interviewte Geertz persönlich im Mai 1989 am Institute for Advanced Study und erneut telefonisch im August 1994.
25 Clifford Geertz, Spurenlesen, München 1997, S. 190.
online source: https://epdf.pub/an-den-grenzen-des-wissens.html
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