Geertz über Nationalitätenkonzept 

 

"Der Modellcharakter Idonesiens und Marokkos beruht darauf, dass beide einem Phänomen ausgesetzt sind, das zum Teil in fast jedem anderem unausgeformten nefo-Land auftritt und das sich auch in den scheinbar deutlicher kristallisierten oldefo-Ländern desto mehr verbreitet, je mehr dort die Massen regieren. (1) Es handelt sich um das Aufeinanderklaffen dessen, was wir im modernen Westen seit dem Westfälischen Frieden fast als Synonyme verstehen, um Begriffe, deren einer uns die Artikulation des anderen ist, um deckungsgleich gedachte kollektive Realitäten von gemeinsamer Natur und gemeinsamem Ursprung: "Staat", "Nation", "Volk", "Land", "Gesellschaft" und "Kultur". Das sind die Rahmenbegriffe der modernen politischen Analyse und Erkenntnis. Sie definieren für uns die Grenzen der Loyalität, Identität, Zugehörigkeit, Souveränität und gegenseitigen Unterstützung. Sie sind auf unseren Karten als einheitlich gefärbte Räume zu erkennen und tragen in den Ortsverzeichnissen unserer Sprache je einen Namen. Doch es gibt immer mehr Zweifel an der Bedeutung und Verwendbarkeit dieser Begriffe, denn sie behaupten eine Entwicklung in Richtung Gemeinsamkeit und Konsolidierung, die es allem Anschein nach gar nicht gibt.

 

Und doch insistiert die vereinheitlichende Vision der klassischen liberalen Staatslehre auf diesem Prinzip. John Stuart Mill behauptete, es sei "allgemeine eine notwendige Vorraussetzung für freie Investitionen, daß die Grenzen der Herrschaft überwiegend mit denen der Nationalität übereinstimmen"; desgleichen Ernest Barker: "Es entsteht ein weltweites Muster politischer Organisation, nach der jede Nation auch ein Staat ist und jeder Staat auch eine Nation." (Ich verdanke diese Zitate Walker Connor, einem der wenigen Politikwissenschaftler, die nicht insgeheim dem Wilsonschen Nationalitätendogma erleben sind.) Doch angesichts einer Welt voller Indonesiens und Marokkos, voller Kongos, Iraks, Sri Lankas, Georgiens ist diese Vorstellung nicht mehr als eine vorsintflutliche Kopfgeburt. Abweichung und Unregelmäßigkeit, Vielfalt, Überschneidung und Verwischung dieser Kategorien wird es weiter geben, ebenso wie Loyalitätskonflikte und die enorme Vielfalt an politischen Formen in Singapur, Nepal, Zypern, in den Vereinigten Arabischen Emiraten oder Saudi-Arabien. Was immer die Revolution in der Dritten Welt sonst noch war: Ihre Verheißung einer Vereinheitlichung hat sie nicht eingelöst.

 

Natürlich waren auch die sogenannten "entwickelten; "reifen" oder "modernen" Nationalstaaten Europas und Nordamerikas häufig nicht ganz die Monaden, die sie anderen und sich selbst gegenüber gerne gewesen wären. In dem Maß, in dem sie doch "ein Land, eine Sprache, ein Volk" bildeten, war das ein Ergebnis einer relativ neuen Entwicklung, die nicht ohne Verwerfungen stattgefunden hatte. Eugen Weber hat etwa gezeigt, wie langsam, schwierig und unvollständig jener Prozeß war, de "aus Bauern Franzosen" machen sollte. Linda Colley hat Ähnliches für die "Briten" und ihr Hervorgehen aus Engländern, Schotten und (immer noch fraglich) aus irischen Protestanten im Zuge der religiösen und kulturellen Allianzen und Oppositionen des 18. Jahrhunderts geleistet. Und selbst Mazzini soll gesagt haben, daß er erst noch Italiener hervorbringen mußte, nachdem er nun Italien geschaffen hatte. In neuerer Zeit hat die Kristallisation der Türken, Serben, Bulgaren, Rumänien und Ungarn inmitten de osmanisch-habsburgischen Vielvölkermischung geradezu sprichwörtliche und furchterregend komplizierte Gemengelagen zwischen Mehrheiten und Minderheiten geschaffen. Kanada und die USA sind beide Siedlungsgebiete mit stark unterschiedlicher Bevölkerung und Bevölkerungsdichte. Sie waren tatsächlich nie kompakte, rassisch, ethnisch, kulturell und geographisch einheitliche Gebilde, sondern sind Stück für Stück allmählich zusammengewachsen. Erst danach wurden sie eher mühsam als feststehende und irreduzible natürliche Größen behauptet. Weitere derartige Beispiele gibt es viele: Man denke nur an "Deutschland", "Rußland", "Spanien" oder "Brasilien".

 

Um den Preis einer fiktiven Gewißheit und strategische Bereitschaft, sich Illusionen hinzugeben - von der nach innen gerichteten Blut-und-Boden-Propaganda zu schweigen -, gewann die Vorstellung einer Welt der konsolidierten Völker in sauber getrennten Territorien und unteilbaren Staaten an Bedeutung. Das Prinzip dieses impliziten plébiscite de tous les jours, um mit Renan zu sprechen, entwickelte sich rasch in der Moderne - wobei letztere Bezeichnung vielleicht voreilig ist, denn immerhin hat sich der Nationalstaat am vollkommensten oder zumindest am leidenschaftlichsten in den marschierenden Nationalitäten der beiden Weltkriege manifestiert. Diese Ordnung der Dinge - sei sie nun real oder spekulativ - erscheint seit der Revolution der Dritten Welt nicht mehr als Ziel einer Entwicklung oder als Fluchtpunkt, zu dem alle Staatskunst führt oder wenigstens führen sollte. Im Gegenteil: Sie erinnert eher an die Reste eines wackelnden, überholten und ständisch geprägten Ancien régime. Die Metapher und Repräsentation dieser Ordnung, ihre ideologische Figur im Sinne von Barkers "weltweitem Muster politischer Organisation", war die koloniale Weltkarte. Sie zeigte einige wenige gut entwickelte, überwiegend westeuropäische Nationen, die, so die Vorstellung, ihre Institutionen und Identitäten auf formlose Länder, ungeregelte Gesellschaften und exotische Völker übertrugen. Damit wurde verschleiert, wie nominell, willkürlich und historisch jung dieses politische Schema war. (Im Zusammenhang mit dem kolonialen Indien ging deshalb die Rede von einer "Illusion der Dauer".) Zur realen Festigung oder Effizienz dieses kolonialen Kulturexports trug die ideologische Verschleierung außerdem nur wenig bei. Denn das imperiale Imaginäre - um einen Begriff zu verwenden, der gerade hoch im Kurs steht - war nichts als eine realitätsfremde Phantasie, die dazu diente, ein Chaos an unvereinbaren und disparaten Einzelteilen in eine überschaubare Zahl von Schubladen einzuordnen. Es ging schlicht darum, umfassende und vertraute Kategorien zu schaffen.“

(Zusammenstellung Julio Lambing)

(1) Die Begriffe „NEFO“ (New Emerging Forces) und “OLDEFO “ (the Old Established Forces), waren als Gegenüberstellung von Entwicklungsländern versus Kolonialstaaten der begriffliche Rahmen , innerhalb dessen der indonesische Revolutionsführers und späteren Diktator Achmed Sukarno die Außenpolitik seines unabhängig gewordenen Landes wollte. (Anmerk. JL)


 

Clifford Geertz: "Die Dritte Welt. Vom Fanal der Revolution zur postkolonialen Realitätsbewältigung"; in: Lettre International (Nr. 69 - 2005); S. 48 –49


 

online source: http://axonas.twoday.net/stories/867073/

 


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